Neurobiologie von Placeboeffekten

Seit den 1970er Jahren verdichten sich die Hinweise aus der Forschung, dass Placebo- und Noceboanworten keine rein psychologischen Erscheinungen sind. Vielmehr handelt es sich um komplexe psychoneurobiologische Phänomene, die sowohl Einfluss auf die Aktivität bestimmter Hirnregionen nehmen, als auch auf periphere physiologische Prozesse.

Das Phänomen der Placeboanalgesie, das bedeutet die durch die Gabe eines Placebos hervorgerufene Reduktion der Schmerzintensität um mindestens ein Drittel des Ausgangswertes, ist dabei eine der am bestuntersuchtesten Placeboantworten. Es konnte gezeigt werden, dass die Placeboanalgesie auf ähnlichen neuronalen Mechanismen beruht wie die Schmerzlinderung, die durch Opioide vermittelt wird. Während bei der Opiodanalgesie ein Medikament zugeführt wird, erfolgen analgetische Placeboantworten durch endogene (körpereigene) Opioide. Dieser Nachweis konnte durch die Entdeckung, dass analgetische Placeboantworten durch die Gabe des Opioidantagonisten Naloxon blockiert wurden, erbracht werden (Levine, Gordon & Fields, 1978). Opioidantagonisten hemmen die schmerzlindernde Wirkung von Opioiden, indem sie an den gleichen Rezeptor binden wie diese. Im Falle des Naloxons werden die Opioide vom Rezeptor verdrängt und ihre Wirkung damit aufgehoben. Im vergangenen Jahrzehnt konnten darüber hinaus Studien mit funktionaler Bildgebung wesentlich zum Verständnis der im Gehirn ablaufenden neuronalen Mechanismen, über die Placebophänomene vermittelt werden, beitragen.

Neurobildgebende Studien bestätigten die verwandten Mechanismen von Opioid- und Placeboanalgesie, in dem sie aufzeigen konnten, dass diesen beiden Phänomenen ein gemeinsames neuronales Netzwerk zugrunde liegt. Seitdem wurde die Relevanz dieses neuronalen Netzwerkes durch zahlreiche Studien, die mit unterschiedlichen Verfahren zur Induktion der  Placeboanalgesie arbeiteten, bestätigt. Alle diese Studien zeigten, dass die Aktivität in cingulären und frontalen Hirnregionen, zusammen mit subkortikalen Hirnstrukturen wie dem periaquäduktalen Grau (PAG), dem Hypothalamus und der Amygdala, an der Placeboanalgesie beteiligt sind. Weiterführende Analysen konnten zeigen, dass die Placeboanalgesie auf Verhaltensebene von einer verstärkten funktionellen Verknüpfung zwischen Frontallappen und dem rostralen anterioren cingulären Cortex (rACC) mit Hirnstammstrukturen wie dem PAG abhängt (Bingel, Lorenz, Schoell, Weiller & Büchel, 2006; Eippert, Finsterbusch, Bingel & Büchel, 2009; Kong et al., 2006; Sarinopoulos, Dixon, Short, Davidson & Nitschke, 2006; Wager et al., 2004). All diese Ergebnisse stützen die Auffassung, dass  die Placeboanalgesie durch eine Top-Down-Aktivierung von endogenen analgetischen Prozessen über das absteigende Schmerzhemmsystem vermittelt wird. Dieses System vermittelt auch die analgetische Wirkung von exogen verabreichten Opioiden (Fields, 2004). Mittels funktionaler Bildgebung wurde zudem die Beteiligung des Rückenmarks im Rahmen der lokalen Placeboanalgesie untersucht. Dazu wurde den Probanden eine angeblich analgetisch wirkende Creme auf den linken Oberarm appliziert. Es konnte gezeigt werden, dass die durch eine Schmerzstimulation hervorgerufene schmerzbezogene Aktivität im ipsilateralen Dorsalhorn unter der Placebobedingung deutlich reduziert war. Diese Ergebnisse liefern einen direkten Beweis für eine der Placeboanalgesie zugrundeliegenden spinalen Hemmung und stellen heraus, dass psychologische Faktoren einen Einfluss auf frühe Stufen der Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem haben können (Eippert, Finsterbusch, Bingel & Büchel, 2009).

Der schon zuvor erwähnte neuronale „Schaltkreis“, bestehend aus cingulären und frontalen Hirnregionen, die mit subkortikalen Hirnstrukturen in Interaktion stehen, spielt in der Placeboanalgesie eine wichtige Rolle. Er ist aber auch für Placeboantworten in anderen Bereichen als dieser relevant. In bildgebenden Studien zu sogenannten emotionalen Placebos, in denen Placebo-Anxiolytika (Anxiolytika = angstlösende Medikamente) und Placebo-Antidepressiva verwendet wurden, sind ähnliche  Muster wie bei der Placeboanalgesie in der Hirnaktivität  gefunden worden. Petrovic et al. identifizierten ein modulierendes Netzwerk bestehend aus dem rostralen anterioren cingulären Kortex und dem lateralen orbitofrontalen Kortex, welches sowohl unter Placeboanalgesie als auch im Rahmen emotionaler Placeboantworten aktiviert wurde (Petrovic et al., 2005). Diese neuronalen Aktivierungen wurden korreliert mit den von Probanden berichteten Placeboantworten und sagten das Ausmaß der Behandlungserwartung des Patienten vorher. In einer anderen Studie wurden Patienten mit einer schweren Depression sechs Wochen lang entweder mit einem Placebo oder Fluoxetin, einem Antidepressivum der Stoffklasse der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), behandelt. Das Placebo hatte nach Ablauf der Behandlung einen ähnlichen Effekt auf die  Veränderungen des Stoffwechsels im anterioren und posterioren cingulären und präfrontalen Cortex, wie das Medikament selbst (Mayberg et al., 2002). In vergleichbarer Weise konnten Studien, die die Placeboantworten bei Parkinsonpatienten untersuchten, zeigen, dass die erwartungsinduzierte Verbesserung der motorischen Funktionen nach einer Scheinbehandlung mit der Freisetzung von endogenem Dopamin in den Basalganglien verknüpft ist. Zur Untersuchung der Bedeutung des endogenen dopaminergen Systems für Placeboantworten bei Parkinsonpatienten verwendeten de la Fuente-Fernandez et al. eine Raclopride-Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Nach der Verabreichung eines Placebos, von dem die Patienten glaubten es handle sich dabei um das hochwirksame Anti-Parkinsonmedikament Apomorphin, konnten eine ansteigende neuronale Freisetzung von Dopamin im Striatum, sowie eine dementsprechende klinische Verbesserung beobachtet werden.

Das dopaminerge System ist ein komplexes System, das an einer Vielzahl von kortikalen Funktionen beteiligt ist, wie etwa dem Belohnungssystem. Dies erklärt, warum die durch eine Placeboantwort hervorgerufene Freisetzung von Dopamin nicht nur im Rahmen der Parkinsonerkrankung existiert. Vielmehr sind die dopaminergen Prozesse mit  Placeboantworten oder placeboähnlichen Phänomenen in verschiedenen Systemen in Verbindung zu bringen, einschließlich des Schmerzsystems. Der genaue Kontext und die bedingungsspezifische Rolle von Dopamin für Placeboreaktionen  sind  im Rahmen kommender Forschungsarbeiten zu identifizieren.

Zusammenfassend sprechen die hier exemplarisch berichteten klinischen und experimentellen Forschungsergebnisse dafür, dass an placeboinduzierten therapeutischen Effekten neurobiologische Mechanismen beteiligt sind und es sich bei diesen um die gleichen Mechanismen handelt, durch die auch spezifische pharmakologische Therapien wirken. Die genaue Bestimmung der an Placeboantworten beteiligten Hirnstrukturen und Neurotransmittersysteme ist noch lange nicht erreicht. Ferner sind, im Gegensatz zu den erwartungsinduzierten Placeboantworten, viel weniger Daten zur Neurochemie und zu relevanten Hirnstrukturen bei verhaltenskonditionierten Placeboeantworten verfügbar. Bei Ratten konnte gezeigt werden, dass die konditionierte Immunsuppression über den basolateralen Nucleus der Amygdala und die Insula vermittelt wird. Allerdings ist nicht bekannt, ob diese Areale Placebo- oder Noceboantworten auch unter anderen experimentellen oder klinischen Bedingungen vermitteln. Ebenso ist bislang wenig bekannt über die Aktivierung von Hirnstrukturen während einer Noceboantwort. Abschließend lässt sich sagen, dass die experimentellen Daten daraufhin deuten, dass ein einzelner neurobiologischer oder psychobiologischer Mechanismus nicht zur Erklärung von Placebo- und Nocebophänomenen ausreicht. Im Gegenteil, gemeinsame und systemspezifische Mechanismen, durch die Placebo- und Noceboantworten über Erkrankungen und experimentelle Bedingungen hinweg vermittelt werden, können koexistieren.